Eine Hausaufbahrung – Abschied von Lore

Zu Hause aufgebahrt

Lore stirbt zu Hause gegen 4 Uhr morgens. Ihr Ehemann Dietrich und ihre Schwester Anja sind bei ihr und halten ihre Hände. Lore drückt beide Hände noch einmal und dann hört sie einfach auf zu atmen. Ach große Schwester, sagt Anja und streichelt Lore. Dietrich legt seinen Kopf auf Lores Brust. Als Anja das fahle Morgenlicht am Fenster bemerkt, steht sie auf und legt sich ins Gästezimmer. Dietrich schläft bei Lore.

Um 8.30 Uhr ruft Dietrich die vertraute Palliativärztin an. Die Ärztin kommt, untersucht Lore, kleidet sie ganz aus, befragt Dietrich und Anja zum Tod und füllt den Totenschein aus. Ihr habt 36 Stunden Zeit, bis Lore abgeholt werden muss, sagt die Ärztin. Ich empfehle euch, diese Zeit zu nutzen.

Dietrich ruft seine erwachsenen Töchter an, Lores Freundinnen und seinen besten Freund. Fast alle wollen im Laufe des Tages kommen. Wie geht’s dir jetzt?, fragt sein Freund. Gerade geht’s mir gut, sagt Dietrich, schöner hätte sie nicht sterben können.

Dann ruft Dietrich den Bestatter Julian an. Julian hatte Lore und Dietrich vor etwa drei Wochen besucht und sie haben schon über die Bestattung gesprochen. Ist es okay, wenn Lore erst heute Abend abholt wird?, fragt Dietrich. Ja, klar. Trotzdem bietet Julian an, gleich schon einmal vorbei zu kommen, um beim Ankleiden zu helfen. Das nimmt Dietrich gerne an.

Gemeinsam waschen sie Lore mit einer Schüssel mit warmem Wasser und Seife. Sie wechseln das Bettlaken, waschen die Haare und cremen die Haut mit der Lieblingscreme ein. Anja trägt Lore ein bisschen Schminke und Lippenstift auf und lackiert ihre Fußnägel. Die Kleidung hatte Lore schon vorher ausgesucht: ihr blaues Kleid, ihre hellgrüne Jacke, das große türkisfarbene Tuch und passende Wollsocken. Dietrich legt ihr die Kette um und klippst die Ohrringe an, auch darüber hatten sie gesprochen. Lore sieht jetzt ganz schön aus und auf ihrem Gesicht scheint ein zärtliches Lächeln zu liegen. Sie vereinbaren, dass Julian zur Abholung von Lore abends gegen 21 Uhr wiederkommt.

In Lores Zimmer hat Anja ein Duftlicht und einige Kerzen aufgestellt, im Hintergrund läuft leise Musik. Plötzlich steht die Physiotherapeutin vor der Tür, Dietrich hat vergessen ihr Bescheid zu sagen. Sie sagt, sie sei dankbar, sich noch von Lore verabschieden zu können. Die ganze Therapiestunde sitzt sie an Lores Bett.

Im Laufe des Tages kommen Freund*innen, Familienmitglieder und Menschen aus der Nachbarschaft. Einige bringen Blumen, eine Freundin steckt Lore einen Brief und eine Schokolade in die Jackentasche. Eine andere Freundin weint bitterlich und entschuldigt sich bei Lore, dass sie sich so zurückgezogen hat. Ich wollte dich einfach nicht sterben sehen, sagt sie. Anja sagt: Ist gut, Lore wusste das.

Gegen 21 Uhr fährt der Thanatos Bus vor. Unter Julians Anleitung wird Lore von den Zugehörigen mit einem Laken in den hellen Kiefernsarg gelegt. Sie legen die Blumen in den Sarg und streuen viele Rosenblätter über und neben Lore in den Sarg.

Anja sagt: Wo auch immer du jetzt bist, ich wünsche dir eine gute Reise. Reisefreudig warst du ja schon immer. Eine Freundin sagt: Ich wünsche dir Frieden mit allen was war und was ist. Ein andere: Ich wünsche dir, dass du frei von Schmerzen bist und dass du nie mehr Angst haben musst vor dem Tod. – Ich wünsche dir, dass du da oben auch so gute Parties feierst wie mit uns. –  Ich hoffe, dass du alle wieder triffst, die schon dort sind. – Einfach nur Liebe.

Am Ende küsst Dietrich Lore ein letztes Mal. Gemeinsam schließen sie den Sarg. Noch einmal stehen sie um den Sarg und legen ihre Hand auf den Sargdeckel. Dann tragen alle, die wollen, den Sarg langsam aus der Wohnung heraus. Sie heben den Sarg ins Auto, Dietrich schließt die Rückklappe. Mach’s gut, bis wir uns wiedersehen. Julian steigt ein und fährt mit dem Thanatos-Bus los. Erschöpft, traurig, aber mit dem Gefühl großer Verbundenheit bleiben die anderen zurück.

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[Das Foto ist ein Ausschnitt aus den Sarggeschichten.]

Waschen und Ankleiden

Autor: julian.heigel

Bestatter

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